Erinnerungen an die Schulgründung
von Dr. Heinz Brunkhorst
Kürzungen, Umstellungen und behutsame Anpassungen durch Dominik Riediger vorgenommen.
Am 1. August 1968 startete das Tagesheimgymnasium Landkreis Bergheim-Süd den Unterricht. Es war das Jahr der Studentenunruhen, die die Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen der Nachkriegszeit zum Ausdruck brachten. Man versuchte, nach den Jahren des Nationalsozialismus an die Vorkriegsverhältnisse anzuknüpfen. Die Nachkriegsgeneration aber wollte die überkommene, nicht mehr zeitgemäße gesellschaftliche Trennung von oben und unten, arm und reich überwinden. Das bedeutete, der „Unterschicht“ zu helfen, ihre „Bildungsferne“ zu überwinden. Dazu wurden Gesamtschulen und Tagesheimbetrieb favorisiert.
Die Tagesheimschule steht in der Tradition der um 1900 begründeten Heimschulbewegung, die in Internaten neben traditionellen Schulfächern Sport und ein freies Leben in der Natur ermöglichen sollten. Es war eine frühe Antwort auf die veränderte Stellung des Menschen in der Welt der Industrialisierung seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Seit 1967 gab es ein Tagesheimgymnasium als Schulversuch des Bistum Essen, ab 1969 ein zweites beim Bistum Aachen in Dülken. Unsere Schule ist das erste Tagesheimgymnasium in öffentlicher Trägerschaft. Die drei Schulen waren sich einig, dass die Mehrgliedrigkeit des Schulsystems der Vielfalt menschlicher Fähigkeiten am besten gerecht wird und ein breiteres Bildungsangebot für alle böte.
Wie kam es zu der Neugründung?
Ende der 1960er Jahre war das sogenannte „Wirtschaftswunder“ auf einen ersten Höhepunkt gelangt. Kleinere Fabriken, Geschäfte und Betriebe in Köln hatten keinen Platz für Erweiterungen und suchten Gelände im Umkreis, tunlichst mit hoher Lebensqualität und Bildungsmöglichkeiten für ihre Belegschaften. Zu den begehrten Plätzen gehörte das Gebiet von Kerpen dank guter Bahn- und Autobahnverbindungen.
Zugleich suchten dort die Gemeinden Nachfolgeindustrien für die Braukohle, denn viele kleinere Gruben waren ausgekohlt. Die Gemeinde Türnich war besonders betroffen, die Grube Frechen (heutiges Marienfeld) stand vor der Schließung und im damaligen Ortsteil Grefrath lag die Hauptwerkstätte der Gruben. Die Gewerbesteuer hatte die Gemeinde reich gemacht. Deshalb reagierte sie auf den Wunsch der Interessenten nach einem Gymnasium, das damals als das Ziel bildungsbestrebter Eltern galt.
So beantragte der Gemeindedirektor bei der Schulabteilung in Düsseldorf ein Gymnasium für Türnich. Der Behördenleiter war früher Direktor des Gymnasiums Brühl, kannte sich also in etwa in der Gegend aus und beschied: „Türnich? Da gibt es doch gar keine Intelligenz.“ Das spornte die hiesigen Politiker umso mehr an, und mit der Auflage, dass es „höchstens“ ein Tagesheimgymnasium (was von Erzkonservativen als eine Art Hilfsschule für Unterschichtskinder angesehen wurde) sein könne, und der Verpflichtung, dass nur mehrere Gemeinden das teure Unternehmen trügen, wurde der „Schulverband Landkreis Bergheim-Süd“ der Gemeinden Stadt und Amt Kerpen, Amt Horrem (mit Sindorf), Gemeinde Türnich (mit Balkhausen und Brüggen) sowie Gemeinde Blatzheim gegründet – die Keimzelle der heutigen Stadt Kerpen.
Der Unterricht begann in Türnich in zwei Klassenräumen einer Schulbaracke der gerade umgezogenen Sonderschule. Das Land NRW bewilligte pro Klasse 1,5 Lehrerstellen, für Ganztagsschulen einen Zuschlag von 30%. Da zu dieser Zeit viele Neugründungen von Gymnasien stattfanden, herrschte Lehrermangel. Wir begannen mit einem Schulleiter und einer frisch aus der Ausbildung gekommenen Lehrerin. Die fehlenden Lehrerstellen mussten wir auf dem „Schwarzen Markt“ besorgen. Es unterrichteten: 1 Realschullehrer, 1 Hauptschullehrer (pensioniert), 1 Grundschullehrer, 2 Pastöre, 1 Kantor, 1 Dipl.-Sportlehrer, 1 Meisterschülerin der Kölner Werkschulen, 1 Ingenieur von Rheinbraun, 1 junge Deutsche mit amerikanischem Hochschuldiplom.
Bei den hauptamtlichen Lehrern lag die Aufgabe, Ganztagsunterricht zu planen. Sie kamen alle frisch aus der Ausbildung in ihre erste Stelle. Doppelstunden kannten sie nicht, Arbeitsgemeinschaften (die ja kein Zeitvertreib sind) auch nicht, es gab keine staatliche Unterrichtshilfen für Ganztagsschulen. Sie wuchsen zu einem eingeschworenen Team zusammen (was man dem heutigen Kollegium noch anmerkt).
Drei Jahren gab es nur Halbtagsunterricht, ab 1970 dann den Ganztag einschließlich Mittagessen. Das Essen wurde zunächst in Kesseln und Eimern aus der Rheinbraun-Kantine herangeschafft. Ein Seitenflur der Erfthalle war unsere Mensa. Ein Mädchen aus einem Geschäftshaushalt strahlte: „Endlich ein warmes Mittagessen“.
Ein junger Kollege brachte das Interesse an der Informatik mit, damals noch ganz neu. Als erstes bekamen wir eine Olivetti-Schreibmaschine mit Lochstreifeneinzug. Doch schon 1975 kaufte uns der Schulträger einen vom Land stark subventionierten „Großcomputer“ (ca. 60x70x170 cm, teilweise noch röhrenbestückt). Es war der Anfang des Fachs Informatik, das als Grundkurs uns zu Teilnehmern des Schulversuchs Informatik machte und 1984 zu einer der ersten fünf Schulen mit Informatik als Leistungskurs. Dazu kamen 1976 zwei Doppelqualifikationen: Abitur und Fremdsprachen- korrespondent für Englisch bzw. Französisch - die ersten gelungenen Versuche, das Abitur mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung zu verbinden.
Eingedenk der Aufgabe als Tagesheimschule, begabte Jugendliche zu fördern, eröffneten wir 1971 ein „Aufbaugymnasium für Realschulabsolventen“ mit den Fachrichtungen Naturwissenschaften, Wirtschaft und Erziehungswissenschaft“. Bei drei Realschulen im Schulbereich und mehrere der Nachbarschaft war das ein voller Erfolg und verschaffte jedes Jahr 70 – 80 Heranwachsenden einen höheren Bildungsstandard.
Zum ersten Abitur des Aufbaugymnasiums besuchte uns eine Vertreterin des Kultusministeriums. Sie war beeindruckt und bot uns an, zusammen mit einer anderen Schule einen Lehrplan für ein neues Fach „Technik“ zu erproben, das heute überall Bestandteil des naturwissenschaftlichen Unterrichts ist. Das alles geschah im Türnicher Provisorium, das durch den regelmäßigen Anbau neuer Schulpavillons wuchs. Besonders durch das Aufbaugymnasium vergrößerte sich die Raumnot plötzlich sprunghaft. Da bot sich 1974 in Kerpen Hilfe an durch ein altes, dreigeschossiges kirchliches Heim für geistig Behinderte, das von den Nonnen geschlossen worden war. Von den zwei oberen Etagen war eine für Männer, eine für Frauen vorgesehen: Die Straßenseite als Schlafsaal, die Hofseite als Aufenthaltsraum. Alle Säle wurden mit Spanplatten auf Klassengröße unterteilt, die Wände dienten zugleich als Tafeln. Die Oberstufe erhielt hier ihr Domizil, die Lehrer pendelten zwischen Türnich und Kerpen hin und her. Die Oberstufenschüler dieser Jahrgänge schwärmen noch heute von diesem unschulischen Schulleben mit einem Garten voller Obstbäumen für die Pausen... Nicht zu vergessen der Lehrer, der in Ermanglung einer Pausenglocke von einem Haufen Ziegelsteinen im Hof zwei Stück in die Klasse mitbringen ließ, um sie als Signal für den Unterrichtsbeginn aus der 2. Etage auf den gepflasterten Hof fallen zu lassen. Die Nonnen unterhielten auch einen Kindergarten; über dem Eingang stand deshalb eingemeißelt: „Lasset die Kindlein zu mir kommen“. Zwei Jahre währte dieser Traum, 1975 bezog die Schule den ersten Bauabschnitt des Neubaus, die Oberstufe kam ein Jahr später nach. 1982 konnte endlich auch der 2. Bauabschnitt bezogen werden.
In der kommunalen Neuordnung des Landes NRW 1975 war die heutige Stadt Kerpen entstanden. Politiker des Ortsteils Horrem waren enttäuscht, dass die neue Stadt nicht ihren Namen trug und das Rathaus nach Kerpen kam. Den Kampf um den Platz des Gymnasiums hatte man schon 1969 verloren. Jetzt, 1982, erreichten Sie im Stadtrat die Gründung eines 2. Gymnasiums als Halbtagsschule in Horrem. Es hatte vorher weder Absprachen oder auch nur Überlegungen für die Koexistenz beider Schulen gegeben. Es kam, wie von Fachleuten prophezeit: Die Schule blieb auf Dauer zweizügig. Das Kerpener Tagesheimgymnasium („THG“) wurde 6-7zügig. Mit Einrichtung der Oberstufe wurde 1992 klar, dass ein Gymnasium in Horrem nicht überlebensfähig war. Auch die Wahlmöglichkeiten der Sekundarstufe I waren nur am THG gegeben. Und so wurde das Horremer Gymnasium komplett in das THG 1994 integriert. Diese Aufgabe fiel dem Nachfolger des 1993 pensionierten Gründungsschulleiters zu. Bernhard Ripp gelang es, die beiden „feindlichen“ Schulen zu einer harmonisch arbeitenden Institution zu gestalten, die den unterschiedlichen Bedürfnissen ihrer Besucher als gebundene oder offene Ganztags- sowie Halbtagsschule entspricht.